Vorstellung des Habilitationsprojekts von Sebastian J. Müller: "Natürliche Ideen"

Ein Beitrag von Rebekka Pabst.
 
In der Plenumssitzung am 23. November 2017 gewährte der am GRK 1876 assoziierte Dr. Sebastian J. Müller dem Trägerkreis sowie den Kollegiatinnen und Kollegiaten einen Einblick in sein Habilitationsvorhaben "Natürliche Ideen". Während seiner Präsentation erläuterte er, welche Fragestellungen ihn zur dieser Thematik geführt haben und beantwortet werden sollen.
 

Ziele des Projektes

Ziel des Habilitationsvorhabens von Sebastian J. Müller ist es, dazu beizutragen, soziale und kulturelle Phänomene aus Geschichte und Gegenwart vollständiger erklären zu können. Dabei geht Sebastian J. Müller davon aus, dass bestimmte mentale Repräsentationen natürlicher sind als andere. Sie treten deshalb häufiger auf und besitzen gegenüber anderen, unnatürlichen Repräsentationen einen Vorsprung bezüglich ihrer Dauerhaftigkeit und Wirkmächtigkeit.
 

Fragestellungen und zentrale These

Fragestellungen des Habilitationsvorhabens sind zunächst, weshalb es zu Persistenzen, d. h. dem Bestehenbleiben eines Zustandes über einen längeren Zeitraum hinweg, von religiösen Welterklärungen, Moralsystemen und autoritären Herrschaften kommen kann, die selbst weder universalistisch sind noch sich auf Schaden und Nutzen beschränken.
Die zentrale These von Sebastian J. Müller ist dabei, dass soziale, kulturelle, politische und historische Tatsachen teilweise durch die natürliche Beschaffenheit des menschlichen Geistes erklärt werden müssen. Dieser Umstand führt dazu, dass bestimmte Ideen natürlicher erscheinen als andere. Anders formuliert bedeutet dies, dass manche Ideen für den menschlichen Geist einfacher nachzuvollziehen sind als andere.
 

Evolution und Architektur des menschlichen Geistes

Das Projekt verbindet dabei ganz wesentliche Ergebnisse aus Evolutionsbiologie und -psychologie, Vor- und Frühgeschichte sowie sozialer Anthropologie miteinander. Die Evolution über Millionen von Jahren stellt hierbei die einzige plausible Erklärung für die Bildung einer Struktur des menschlichen Geistes dar, die bestimmte Ideen natürlich und andere unnatürlich macht.
Für die Evolutionäre Psychologie gilt dabei, dass soziale und kulturelle Befunde stellenweise psychologisch erklärt werden können. Annahme ist hierbei, dass es eine universelle kognitive Natur des Menschen gibt und dass die natürliche Beschaffenheit des Geistes die Variabilität menschlichen Handelns und der menschlicher Kultur ermöglicht und begrenzt. 
Dagegen können psychologische Befunde teilweise evolutionär erklärt werden. Zentrale Mechanismen der menschlichen Evolution sind Mutation und Selektion. Diese Regeln der Evolution gelten dabei nicht nur für den menschlichen Körper, sondern auch für den menschlichen Geist. 
Anders formuliert bedeutet dies, dass die Beschaffenheit des menschlichen Geistes eine Folge der Bedingungen ist, unter denen sich dieser entwickelte. Der menschliche Geist ist dabei nicht als Allzweckwerkzeug, sondern viel eher als Werkzeugkasten zu verstehen (Modularität des Geistes).
 

Natürliche und unnatürliche Ideen

Um eine "natürliche Idee" von einer "unnatürlichen Idee" abgrenzen zu können, hat Sebastian J. Müller vier Kriterien entwickelt, die eine Idee erfüllen muss, um als "natürlich" bezeichnet werden zu können. Diese Kriterien sind:
  1. Verständlichkeit: Die Idee ist für den menschlichen Geist einfach nachzuvollziehen und nicht sonderlich komplex.
  2. Relevanz: Die Idee ist in einem bestimmten Kontext von großer Wichtigkeit.
  3. Interessantheit: Die Idee umschreibt ein anregendes Thema/ Themenfeld.
  4. Erinnerbarkeit: Die Idee ist leicht zu memorieren und wiederzugeben.
Nur wenn eine Idee alle vier Kriterien erfüllt, ist sie als eine "natürliche Idee" zu verstehen. Für den Fall, dass keines oder eines dieser vier Kriterien nicht erfüllt werden, ist eine Idee als "unnatürlich" zu definieren.
 

Soziale und kulturelle Phänomene vor dem Hintergrund natürlicher Ideen

Zur Veranschaulichung, was eigentlich "natürliche Ideen" im Gegensatz zu "unnatürlichen Ideen" sind, gab Sebastian J. Müller ein Beispiel zu persistenten Welterklärungen.
So definierte er religiöse Welterklärungen als eine "natürliche Idee". Religiöse Welterklärungen sind bis zum heutigen Tag universell verbreitet und erfreuen sich einer enormen Akzeptanz innerhalb der jeweiligen Glaubensgemeinschaften. Dies steht jedoch im Gegensatz zu ihrem geringen explanatorischen Erfolg. Dagegen dürfen wissenschaftliche Welterklärungen als "unnatürliche Idee" verstanden werden. Sie waren lange Zeit nicht vorhanden und haben sich erst spät entwickelt. Im Gegensatz zu ihrem enormen explanatorischen Erfolg werden sie heute nur stellenweise akzeptiert.
Vereinfachend erklärt, bedeutet dies, dass Religion eine natürliche Idee ist. Die Akteure (Götter, Heilige) der jeweiligen Glaubensrichtungen sind für den menschlichen Geist leicht vorstellbar und nachvollziehbar. Ihre Gefühle, Aktionen und Handlungen besitzen einen hohen Wiedererkennungswert. Der menschliche Geist ist in der Lage, sich mit diesen Figuren zu identifizieren. Dagegen sind (Natur-)Wissenschaften unnatürlich. Ihre Akteure besitzen keinen Wiedererkennungswert und sind für den menschlichen Geist nur schwer zu verstehen. So haben wir beispielsweise keine Idee, keine Vorstellung, kein Bild von einem Elektron, d. h. davon, wie ein Elektron aussieht und was es tut.
 

Fazit

Zusammenfassend lassen sich folgende Erkenntnisse aus dem Vortrag von Sebastian J. Müller ziehen:
  1. Der Geist ist evolutionär entstanden und an die Herausforderungen angepasst, mit denen die Menschen in der Hauptzeit ihrer Entwicklung konfrontiert waren.
  2. Hierdurch sind manche Ideen natürlicher als andere, da sie für Menschen verständlicher, relevanter, interessanter und erinnerbarer sind.
  3. Dies ermöglicht die Erklärung bestimmter sozialer Phänomene, zum Beispiel die Persistenz religiöser Welterklärungen.

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