28. Tagung des Arbeitskreises "Antike Naturwissenschaft und ihre Rezeption" (AKAN) in Mainz

Ein Beitrag von Mirna Kjorveziroska. 

Am 24. Juni 2017 hat in Mainz die 28. AKAN-Tagung stattgefunden, veranstaltet von Prof. Dr. Jochen Althoff, dem stellvertretenden Sprecher des Graduiertenkollegs. Insgesamt sieben Vorträge haben ein sehr breites Spektrum an Fragestellungen behandelt, wobei durch diese thematische Offenheit der immense Skopus der antiken Naturwissenschaft sowie die Pluralität ihrer Erforschungsmöglichkeiten und deren methodische Flexibilität in aller Deutlichkeit programmatisch illustriert wurden. In der folgenden Retrospektive, die nicht die Chronologie der Tagung reproduziert, sondern auf anderen, durch die zeitliche Distanz ermöglichten aposteriorischen Dispositionsintuitionen beruht, soll jeder Vortrag in einer sprachlichen Miniatur rekapituliert werden, ohne dass auf einer strengen quantitativen Symmetrie zu insistieren ist.

Naturkundliche Wortgeschichten

Die Vorträge von Katharina Epstein (Freiburg) und Agata Maksymczak (Augsburg) beschäftigten sich mit Aristotelesʼ terminologischem Instrumentarium und präsentierten eine mikroskopische Analyse je einer zentralen Begrifflichkeit. Epsteins Vortrag "ἄνθρωπος und θηρίον bei Aristoteles" war als Demontierung einer vermeintlichen Synonymie angelegt: Ausgehend von der Beobachtung, dass in der Historia animalium VIII und IX der Begriff θηρίον zur Referentialisierung von Tieren favorisiert wird, hat Epstein über die semantischen Interferenzen zwischen θηρίον und ζῷον reflektiert. Während ζῷον, 'das Lebewesen', als eine abundante gemeinsame Bezeichnung für Menschen und Tiere fungiert (Pflanzen jedoch ausschließt, die nur in der Partizipialform ζῶντα mit erfasst sind), ist θηρίον ein Wort der Jagd, beziehbar auf Bestien und Raubtiere. Während ζῷον die Gemeinsamkeiten von Mensch und Tier betont, artikuliert θηρίον eine Perspektive der Alterität, eine menschliche Abgrenzung vom Tier und generiert eine Distanz zwischen dem Menschen und der animalen Aggressivität und Brutalität. Es konnte also aufgezeigt werden, dass eine lexikalische Entscheidung als Kristallisationspunkt der genauen Nuance einer Tier-Mensch-Relation lesbar ist.
Maksymczak hat sich in ihrem Vortrag "Die aristotelische Natur ist ein Prinzip der Bewegung – doch was ist ein Prinzip?" mit der Semantik von ἀρχή bei Aristoteles auseinandergesetzt, da eine Disambiguierung des Lexems für das Verständnis von Aristotelesʼ Naturdefinitionen in der Physik und der Metaphysik – beispielsweise "Naturbeschaffenheit ist eine Art ἀρχή und Ursache von Bewegung und Ruhe an dem Ding, dem sie im eigentlichen Sinne, an und für sich, nicht nur nebenbei, zukommt" (Physik II 1.192 b 13–15) – unabdingbar ist.

Lothar Willms (Heidelberg) hat in seinem Vortrag "Blei, Birke und Biber: Was die Etymologie von Wörtern der natürlichen Umwelt über die Kulturgeschichte verrät" durch die Optik der linguistischen Paläontologie die Entwicklung ausgewählter botanischer und zoologischer Appellativa zurückverfolgt und ihre Biographie nachgezeichnet. Es handelte sich dabei um eine diachrone und diatopische Makroperspektive, die sich nicht dem terminologischen Usus und den semantischen Nuancierungen eines konkreten Autors oder Textkorpus mikroskopisch zuwandte, sondern die lautliche Karriere der selegierten Lexeme in verschiedenen Einzelsprachen und Sprachstufen überblickte, um die Entlehnungsdynamiken mit Kulturkontakten und Migrationen in Korrelation zu bringen. Die methodische Grundprämisse war also eine Instrumentalisierung etymologischer Ansätze zur Rekonstruktion kulturgeschichtlicher Formationen. Durch Eruierung keltischer Etyma konnte das Keltische als Gebersprache für diverse Ausdrücke für nordalpine Flora und Fauna in den indogermanischen Sprachen ausgewiesen werden, wodurch sich eine Kongruenz zwischen der geographischen Heimat der entlehnten Bezeichnungen und dem Verbreitungsraum der damit referentialisierten Tiere und Pflanzen postulieren ließ.

Wolfgang Hübners (Münster) und Klaus Ruthenbergs (Coburg) Überlegungen berührten die Frage nach der Relation zwischen antiken Wissensbeständen und moderner Nomenklatur. Hübners Vortrag "Wie soll der neue Planet heißen? Antike Mythologie heute" als Skizze zur noch zu schreibenden Kulturgeschichte der Planetenbenennung behandelte die Funktionalisierung mythologischen Wissens zur onomastischen Auszeichnung von Himmelskörpern. Dabei wurde durch die Schilderung konkurrierender Benennungssysteme und historischer nomenklatorischer Dissense die prozessuale Durchsetzung der mythologischen Namen illustriert: Paradigmatisch für eine abgewiesene Alternative der Astronomie sind beispielsweise die panegyrischen Benennungsversuche nach Herrschern, exemplifiziert an Galileos Insistenz, die neuen Jupiter-Monde als Medicea sidera zu bezeichnen. Indem sie stattdessen die Namen der Geliebten Jupiters erhielten, siegte die Mythologie über die politischen Logiken. Während man eine Glorifizierung des Entdeckers durch die Übertragung seines Namens auf den entdeckten Himmelskörper konsequent ablehnte, wurden die mythologischen Figuren verschiedentlich durch literarische Protagonisten einer Nationalliteratur als Namengeber substituiert – so tragen die ersten Uranus-Monde die Namen Titania, Oberon, Ariel, Umbriel und Miranda, wobei die Werke Alexander Popes und William Shakespeares als Namenfundus figurieren. Zugleich wurde aber auch auf die limitierte Kapazität der mythologisch imprägnierten Benennungsmöglichkeiten hingewiesen: Das Quantum an aktuell bekannten Himmelskörpern überfordert das onomastische Reservoir der Mythologie, sodass auch auf Toponyme als Namengrundlage zurückgegriffen werden muss: Man denke an die Planetoiden Marsilia, Austria, Heidelberga oder Chicago.
Ruthenbergs Vortrag "Säuren in der Antike und Frühen Neuzeit" konzentrierte sich seinerseits auf Platons und Aristotelesʼ Äußerungen über die Eigenschaften von Säuren sowie auf Pliniusʼ Ausführungen über den Essig als Pharmakon. Weiterverfolgt wurde dieser heute als chemisch zu bezeichnende Diskurs bis in die Frühe Neuzeit hinein, als die Säuren als Mittel zur Auflösung von Metallen für die Alchemie äußerst attraktiv waren. Die Argumentation basierte auf der Annahme, dass Säuren auch aus einer diachronen Perspektive erforscht werden können, obwohl kein terminologisches Kontinuum festzustellen ist: Die Säuren in der Antike und in der Frühen Neuzeit wurden weder mit den heutigen differenzierten Namen noch mit elaborierten chemischen Formeln versehen, aber ihre operationable Dimension, etwa die Produktion von Säuren, war durchaus bekannt. Ungeachtet der Absenz unserer heutigen Zeichensysteme zur nomenklatorischen Fixierung der Säuren lässt sich also ein Wissen über Säuren auch in alten naturkundlichen diskursiven Komplexen eruieren.

Naturkundliche Wissensformationen und theologische Normative

Sylvia Usener (Frankfurt) und Diego De Brasi (Marburg) erläuterten die Interaktion zwischen medizinischem bzw. zoologischem Wissen und theologischem Diskurs. Aus diesem Kontakt resultiert notwendigerweise eine Veränderung – entweder der theologischen Matrix oder der naturkundlichen Wissenssegmente. Useners Vortrag "Mit Geduld und Spucke. Jesus von Nazareth, Kaiser Vespasian und die 'Wunder' der Medizin" lagen Berichte über eine Blindenheilung nach Markus (Mk 8,22–26) sowie über die Heilung eines Blindgeborenen nach Johannes (Joh 9,1–12) zugrunde, in denen Jesus Speichel als Pharmakon verwendet und somit von dem konventionellen biblischen Therapiemodell abweicht, nur durch Berührung zu heilen. Hierdurch wird zum einen das Neue Testament auf das antike medizinische Wissen hin geöffnet, das den Speichel in zahlreichen Rezepten als bewährtes Arzneimittel empfahl, zum anderen werden aber auch Parallelen zu einer von Tacitus erzählten Geschichte über Kaiser Vespasian nahegelegt, der einmal von einem Patienten gebeten wurde, ihn mit dem Speichel zu heilen. Dabei konnte die große Konsequenz konturiert werden, dass durch die biblische Absorption pharmakologischer Praktiken aus anderen Kontexten die Bedeutung des Handauflegens als einer kanonischen kontiguitären Heilungsgeste relativiert und eine Neuinszenierung des Jesus als Pharmazeut demonstriert wird.
De Brasis Vortrag "Der Physiologos: Ein Beispiel christlicher Umfunktionierung biologischen Wissens" war hingegen als eine offene Frage, als ein argumentatives Fragezeichen konzipiert, wie die großen theologischen Lizenzen, der demonstrative Ermächtigungsakt der christlichen Allegorese gegenüber der zeitgenössisch korrekten Zoologie zu erklären sind. Diese Obstruktion kontemporären naturkundlichen Wissens zur leichteren Kompatibilisierung der referierten Tierbeschreibungen mit der intendierten allegorischen Auslegung wurde unter anderem am Physiologos-Lemma 'Wiesel' illustriert. Trotz der in der Antike reichlich überlieferten Ansicht, dass das Wiesel durch den Mund gebäre, wird im Physiologos die anatomische Basis dieses Fortpflanzungsprozesses chiastisch invertiert: Dort empfängt das Wiesel durch den Mund, gebiert durch das Ohr und lässt sich dementsprechend mit unfrommen Christen analogisieren, die das geistliche Brot in der Kirche essen, das Wort des Herrn aber sogleich wieder aus ihren Ohren herauswerfen. In diesem Zusammenhang wurde auch die Frage nach den Rezeptionsmodalitäten und dem Profil der Zielgruppe des Physiologos aufgeworfen, die solche Wissenskorruptionen (un-)wissentlich akzeptiert und toleriert hat.

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