Interdisziplinärer Workshop "Von der Klassifikation zum Konzept: Interdisziplinäre Heuristiken zur Konzeptualisierung von Flora, Fauna, Mensch und Landschaft“

Ein Beitrag von Katharina Hillenbrand und Tristan Schmidt.

Am 21. und 22. November 2014 fand an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz ein interdisziplinärer Workshop des Graduiertenkollegs "Frühe Konzepte von Mensch und Natur" statt. Unter dem übergreifenden Thema "Von der Klassifikation zum Konzept: Interdisziplinäre Heuristiken zur Konzeptualisierung von Flora, Fauna, Mensch und Landschaft", fanden sich Vertreter verschiedener Disziplinen ein, die aus linguistischer, kulturhistorischer, soziologischer und naturwissenschaftlicher Perspektive den Möglichkeiten der Klassifikation von Flora und Fauna nachgingen.

Als Leitlinien des Workshops dienten dabei folgende Fragen:
1) Welche Abgrenzungen und Klassifikationskriterien von verschiedenen Pflanzen, Tieren, Menschen oder Landschaften sind erkennbar?
2) Gibt es spezifische Formen der Klassifikation in Schrift, Sprache, Abbild und Frames?
3) Gibt es Hierarchisierungen?
4) Sind differierende Klassifizierungssysteme in verschiedenen sozialen Gruppierungen sichtbar?
5) Was motiviert Klassifikationen?

Nach einer Begrüßung und Einführung durch die beiden Veranstalter, Tanja Pommerening (Ägyptologie - Mainz) und Walter Bisang (Linguistik - Mainz), begann Sonja Gerke (Ägyptologie - Mainz) mit ihrem Vortrag "All Creatures Great and Small – the Ancient Egyptian View on the Animal World" (Abb. 1). Sie ging der Frage nach, ob den teilweise sehr detaillierten und differenzierten Tierbeschreibungen und -darstellungen im Alten Ägypten konsistente Muster der Kategorisierung zugrunde lagen. Sie kam zu dem Ergebnis, dass ein kanonisiertes System der Tierklassifizierung nicht vorgelegen habe, sondern dass vielmehr je nach Notwendigkeit eigene situative Klassifikationen angestellt worden seien, die oft keine Parallelen in anderen Zeugnissen aufweisen würden.


Abb. 1: Die Referentin Sonja Gerke und die Workshop-TeilnehmerInnen (Bild: Valeria Zubieta Lupo).

Einen ägyptologischen Schwerpunkt hatte auch der zweite Vortrag von Orly Goldwasser (Ägyptologie - Jerusalem) mit dem Titel "What is a horse?": From the Egyptians to the Aztecs – A Cross-Cultural Perspective." Sie nahm die Einführung des bis in das 17. Jahrhundert v. Chr. in Ägypten unbekannten Pferdes als Ausgangspunkt für die Frage, wie sich die Namensgebung für dieses fremdartige Tier gestaltete und wie dieses neue Wort in die Schriftsprache integriert wurde. Gerade anhand der sogenannten Hieroglyphenklassifikatoren lasse sich erkennen, in welche taxonomischen Kategorien die Alten Ägypter es einordneten. Im Anschluss zog sie eine Parallele zu Vorgängen bei der Einführung des Pferdes in den aztekischen Kulturraum im 16. Jahrhundert n. Chr., wo das Pferd auf eine deutlich andere Art in bestehende Vorstellungen integriert worden sei.

Thekla Wiebusch (Linguistik - Leipzig) betrachtete in ihrem Vortrag "The Classification of Animals in Ancient and Medieval Chinese Writing System(s) and Knowledge Organization"  chinesische Wörterbücher aus Antike und Mittelalter. Anhand der Kategoriemarker, die die chinesischen Schriftzeichen für Tiere aufweisen, ging sie den zu Grunde liegenden Klassifikationen nach und stellte sie in Relation zu damaligen philosophischen Ansätzen zur Tierklassifikation.

Am Nachmittag folgte der Vortrag von Roy Ellen (Anthropologie - Kent) mit dem Titel "Tools and living things: some observations on the interconnection between concepts and categories" (Abb. 2). Er beschäftigte sich mit der Zuschreibung von tierischen und menschlichen Eigenschaften auf unbelebte Dinge, die somit in verschieden starker Ausprägung als lebende Wesen mit mehr oder weniger großer Autonomie bzw. Beseeltheit behandelt werden. So sähen die von Ellen untersuchten, im östlichen Indonesien ansässigen Nuaulu etwa verschiedene Handwerkzeuge als Verlängerungen des menschlichen Körpers. Gerade das Kriterium der Bewegung sei hier entscheidend für Belebtheit. Selbstbewegte Maschinen, wie Außenbordmotoren von Booten werde eine noch umfangreichere Belebtheit zugesprochen, ihr Defekt könne entsprechend in den Kategorien von Sterben und Tod formuliert werden.

Abb. 2: Festvortrag mit Roy Ellen (Bild: Valeria Zubieta Lupo).

Der geplante Vortrag von Dietrich Busse (Germanistik - Düsseldorf) "Frames als Modell zur Analyse und Beschreibung von Konzepten, Konzeptstrukturen, Konzeptwandel und Konzepthierarchien" musste leider entfallen.

Es folgte Walter Bisang (Linguistik - Mainz) mit einem Vortrag über "Classification between grammar and culture – a cross-linguistic perspective." Er zeigte, dass Klassifikation in vielen Grammatiken als Prinzip erkennbar ist. Klassifikatoren würden dazu verwendet, Kategorien wie etwa Form, Zahl, Belebtheit, soziale Einordnung etc. darzustellen. Dabei verwies er darauf, dass einige Klassifikationsprinzipien offenbar universell aufträten, andere wiederum kulturspezifisch seien und bestimmte gruppenspezifische Perspektiven auf Dinge wiedergäben. An ihrer Vielfalt und Entwicklung ließe sich eine Vielzahl an Konzepten der Einordnung erkennen. Der Zweck der Klassifikatoren in der Grammatik sei, Dinge zunächst zu individuieren und zu identifizieren.

Iolanda Ventura (Wissenschaftsgeschichte - Paris) beschäftigte sich anschließend in ihrem Vortrag "The Development of Pharmacy at the End of the Twelfth Century: the "Taxonomies" of Geraldus (of Montpellier?) and Iohannes de Sancto Pauloz" mit hochmittelalterlichen pharmazeutischen Werken. Im zwölften Jahrhundert habe die Wissenschaft, angeregt unter anderem durch eine verstärkte Übersetzungstätigkeit vor allem arabischer Werke, einen Aufschwung erlebt. Auch im pharmazeutischen Bereich seien zahlreiche Werke verfasst worden. Anhand zweier pharmazeutischer Sammelwerke geht Ventura den Ordnungs- und Klassifikationskriterien der einzelnen Heilmittel nach, zeigt mögliche Einordnungen in den Kontext der zeitgenössischen Klassifikationsweisen auf und deren Entwicklung.

Mit einem gemütlichen Beisammensein im "Proviant Magazin" klang der Abend aus.

Der Samstag begann mit einem weiteren Vortrag von Roy Ellen zum Thema "Conceptualising natural objects: some issues arising from recent work in cognitive anthropology and ethnobotanical classification." Darin fragte Ellen nach dem generellen Funktionieren von Klassifikation. Ausschlaggebend für die Betrachtung von Klassifikationen seien Worte und Kategorien. Es gelte, anhand der nicht immer einfach zu erkennenden Kategorien deren semantische Struktur, also die unterschiedlichen Eigenschaften, die eine Kategorie definieren, sichtbar zu machen. Diesen liege oft ein Prototyp zugrunde, der Verwandtschaftsbeziehungen zwischen verschiedenen Gegenständen ausdrückt. Ellen warnt davor, diese zu schnell in Kategorien kultureller Universalität einzuordnen. Letztlich werde zunächst kategorisiert, dann unterschieden und als Endprodukt des Prozesses klassifiziert, was je nach Kultur zu unterschiedlichen Ergebnissen führen könne.

Anschließend sprach Joachim W. Kadereit (Botanik - Mainz) in seinem Vortrag "Classification and naming of living objects – a biologist’s perspective" über den generellen Sinn von Klassifikation und ihre Besonderheiten in der Biologie (Abb. 3). Auch hier würden zunächst Ähnlichkeiten in Tabellen erfasst und in Phänogrammen festgehalten. Dabei konnte er anhand der Zuordnungen zur Gattung des papaver zeigen, dass es auch in der Biologie unterschiedliche Herangehensweisen zur Klassifizierung gibt, die nie rein objektiv sind und nicht notwendigerweise das Verwandtschaftsverhältnis verschiedener Pflanzenarten widergeben. Sinnvoll sei es, größere Beziehungsstränge zu benennen.

Abb. 3: Der Referent Joachim W. Kadereit und die Workshop-TeilnehmerInnen (Bild: Valeria Zubieta Lupo).

Nach einer kurzen Pause sprach Jochen Althoff (Gräzistik - Mainz) über "Categorization and explanation of the world in Hesiod’s Theogony." Er zeigte, dass nach hesiodeischer Darstellung der Ausgangspunkt der Welt das Chaos sei, dem folgend verschiedene weitere Wesenheiten entstanden seien. Althoff ging insbesondere der Frage nach, inwieweit diesen Wesenheiten synonyme Vorstellungen zugrunde liegen. Als Beispiel führte er etwa das Entstehen des Schlafes aus der Nacht auf. Beide seien sowohl zeitlich als auch inhaltlich miteinander verbunden, weshalb man ein synchrones Verhältnis vermuten könne. Daneben seien aber auch kontrastive Vorstellungen erkennbar, etwa die Entstehung des Tages aus der Nacht. Insgesamt, so Althoff, sei kein festes Naturkonzept feststellbar. Das Modell sei allerdings stark menschbezogen und beinhalte entsprechende Kategorisierungen der Weltentstehung, wie man am genealogischen Aufbau und den anthropomorphen Göttervorstellungen erkennen könne.

Als nächstes sprach Stefan Hirschauer (Soziologie - Mainz) über "Geschlechterdifferenzierung durch wissenschaftliches Wissen." Insbesondere stand die Frage im Mittelpunkt, wie wissenschaftliche Disziplinen (Natur- und Sozialwissenschaften) Wissen über Geschlechterdifferenz nutzen und selbst beeinflussen. Dabei zeigte er vier Dimensionen auf. Die Stabilisierung einer Kosmologie der Geschlechterdifferenz komme dadurch zustande, dass sozial generierte Unterscheidungen auf die natürliche und kulturelle Welt rückübertragen und somit ontologisch verankert würden. Basierend auf dieser Ontologie habe sich eine Methodologie zur Geschlechteridentifizierung entwickelt, aus der sich für die Wissenschaft hinsichtlich der Kategorisierung eine Deutungshoheit ergebe. Am Schluss ging er darauf ein, inwieweit Technologien die herrschenden Geschlechterbilder verstetigen oder ausformen können. Insgesamt erkennt er eine zunehmende Privilegierung professionalisierter Gruppen hinsichtlich der Deutung des menschlichen Körpers.

Es folgte Simone Gerhards (Ägyptologie - Mainz) mit ihrem Vortrag "Day and night 'spheres' – From a classification of daytime to concepts about day rhythm in ancient Egypt." Sie zeigte dabei zunächst verschiedene Arten ägyptischer Einteilungen des Tages auf. Diese würden weniger nach Stunden oder in Tag und Nacht unterscheiden, sondern sich an anderen Kategorien orientieren, beispielsweise am alltäglichen Tagesablauf, wie Essens- oder Gebetszeiten. Darauf aufbauend arbeitete sie verschiedene Konzepte heraus, die bei der Zeiteinteilung in Ägypten von Bedeutung waren. Insgesamt machte sie vier Konzepte aus: das mythologische, dem etwa die Reise des Sonnengottes zugrunde liege; das natürliche, das sich am Sonnenlauf orientiere; das kalendarische, das auf astrologische Beobachtungen zurückgehe; sowie das kulturelle, das sich an Essenszeiten oder den Wechsel von Helligkeit zu Dunkelheit anschließe.

Als letzte sprachen Sabine Bartsch und Andrea Rapp (Computerlinguistik - Darmstadt) über "Exploration of textual knowledge systems in natural history texts." Darin zeigten sie Möglichkeiten der Zusammenarbeit zwischen der Computerlinguistik und Textwissenschaften auf. Sie zeigten anhand von digitalisierten naturhistorischen Texten, dass etwa linguistische Untersuchungen, semantische Analysen und die Organisation von Diskursen möglich seien. Notwendig hierfür sei aber zunächst die standardisierte Erstellung einer Datenbank. Ziel dieser Arbeit sei es, in großen Textcorpora Themen zu ermitteln (Topic Modelling).

Anschließend an den Vortrag fand eine 45-minütige Abschlussdiskussion statt, in der die eingangs aufgeworfenen Fragen diskutiert wurden. Es wurde unter anderem angemerkt, dass Kategorisierung oft implizit erfolge und häufig auf Beobachtungen der Ähnlichkeit oder des Kontrastes beruhe. Wichtig sei insbesondere für Textwissenschaftler, auch die Textgattungen näher zu berücksichtigen und zu prüfen inwieweit es sich um individuelle oder universelle Kategorien der Einteilung handle.

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