Eröffnungsvortrag des interdisziplinären Arbeitskreises "Alte Medizin"

Ein Beitrag von Sarah Prause und Valeria Zubieta Lupo.

Prof. Dr. Dr. Dr. Paul Ulrich Unschuld - "Kam Hippokrates nach China? Das chinesische Äquivalent des Corpus Hippocraticum"


Akupunktur, Qigong und mysteriöse Naturarzneien, die für ein Gleichgewicht von Yin und Yang sowie eine Harmonie der im Körper vorkommenden fünf Elemente sorgen sollen, prägen im Allgemeinen die westlichen Vorstellungen von traditioneller Chinesischer Medizin (TCM). Dies jedoch ist ein Vorurteil und hat nur wenig mit der tatsächlichen traditionellen Chinesischen Medizin zu tun.

Am 16. Januar 2014 lud der interdisziplinäre Arbeitskreis "Alte Medizin" der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und kooperierende Einrichtung des Graduiertenkollegs 1876 zum Vortrag von Herrn Prof. Dr. Dr. Dr. Paul Ulrich Unschuld zum Thema "Kam Hippokrates nach China? Das chinesische Äquivalent des Corpus Hippocraticum" ein. Prof. Unschuld ist Sinologe, Medizinhistoriker und zurzeit Institutsdirektor des Horst-Görtz-Stiftungsinstituts für Theorie, Geschichte und Ethik chinesischer Lebenswissenschaften an der Charité Berlin. Mehr als 20 Jahre hat er sich, als bisher einziger Wissenschaftler aus dem Westen, der Übersetzung des Huang Di Ne Jing Su Wen, eines der ältesten Werke zur chinesischen Medizin, gewidmet. Durch die Bearbeitung der Texte aus emischer Perspektive gibt Prof. Unschuld Metaphern, Sprachbilder und Denkweisen der fast 2000 Jahre alten Schriftzeichen kulturimmanent wieder.

Von der existenziellen Heteronomie zur existenziellen Autonomie: Die neue Medizin


In seinem Vortrag verdeutlichte Prof. Unschuld, dass in der Frühzeit Chinas – wie auch in anderen Kulturen, so beispielsweise Griechenland – in Bezug auf Konzepte von Krankheiten und deren Heilungsmöglichkeiten der Glaube an eine existenzielle Heteronomie vorherrschte, d.h. ein Gedankenkonstrukt, in dem Götter, Dämonen und höhere Mächte über Leben und Tod, Krankheit und Gesundheit bestimmen. Zwischen dem 2. Jh. v. Chr. und dem 2. Jh. n. Chr. setzt jedoch, gemäß Unschuld, ein Umdenken ein. Dieses baue auf dem analytischen Gedanken auf, dass es Naturgesetze gebe, deren Befolgung ein erfolgreiches und langes Leben garantiere. Keine höheren Mächte, sondern allein der Mensch ist demnach Herr über seine Existenz – ein Denken, das im antiken Griechenland bereits etwa ab dem 5. Jh. v. Chr. in den Schriften des Corpus Hippocraticum fassbar ist.

Das Huang Di Ne Jing Suwen


Das Huang Di Ne Jing Suwen stellt einen Teil eines Corpus medicorum (das sog. Huang Di Nei Jing) dar, welches im Zeitraum vom 2. bis 1. Jh. v. Chr. entstanden ist und noch heute als wertvolle Quelle theoretischen und praktischen Wissens der modernen chinesischen Medizin dient. Im Huang Di Nei Jing Suwen wird in einem Zwiegespräch zwischen Huang Di (dem Gelben "Kaiser") und dem Meister Qi Bo ein ganzheitliches Bild des menschlichen Lebens konzipiert. Dabei werden grundlegende Konzepte zur Anatomie, Physiologie und Diagnostik sowie Behandlungenmethoden von Krankheiten dargelegt. Prof. Unschuld brachte in seinem Vortrag Qi Bo, basierend auf phonetischen Ähnlichkeiten und der Vermutung, dass er aus dem Westen gekommen war, mit dem griechischen Hippokrates in Verbindung.

Antike chinesische Medizin als gesellschaftspolitische Metapher – Der Körper ist ein Staat


Prof. Unschuld betonte, dass das Konzept der antiken chinesischen Medizin wie auch die Texte dieser Zeit vor dem damaligen historisch-kulturellen Kontext zu betrachten und bewerten sind. Die Zeit von 500 bis 300 v. Chr., auch "die Zeit der kämpfenden Reiche" genannt, war von Gewalt geprägt. Dieser Zustand, der sich fest im Bewusstsein der Kultur verankert hatte, spiegelt sich sogar in den naturwissenschaftlichen Konzepten wider, die reflektieren, dass Kampf die natürliche Ordnung bestimmt: So könne der Sommer nur durch die Vernichtung des Winters zustande kommen. Vor dem gesellschaftspolitischen Hintergrund der Zeit sei der menschliche Körper als "Staat" zu verstehen, der durch bestimmte Verhaltensregeln in Ordnung gehalten werden müsse.

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